Es dürfte 1978 gewesen sein, als ich im Alter von 7 Jahren von Bodybuilding hörte. Mein älterer Bruder David war Kampfsportler und interessierte sich auch für alles, was mit Kraft und Muskeln zu tun hatte. Er las regelmäßig das Athletik Sportjournal (die spätere Sportrevue), worin auch ich oft blätterte.

Schon damals fiel mir ein cool grinsender Typ mit einer Lücke zwischen den Schneidezähnen auf. Er war irgendwie immer in Strandnähe und tollte dort mit ein oder zwei gut gebautenLadies herum. Mein Bruder sagte mir, dass dies Arnold war!

Auch Arnold warb zu dieser Zeit für Proteinpulver. Mein Bruder erklärte mir, dass Bodybuilder davon große Muskeln bekommen. Das prägte ich mir gut ein, denn schon damals war für mich klar: So große Muskelpakete wie Arnold wollte ich auch einmal haben!

Es dauerte noch einige Jahre, bis mir mein Vater im Alter von 13 Jahren eine befüllbareHantel kaufte. So kam der Tag, an dem ich stolzer Besitzer einer „kaffeebraunen Ellipsenhantel“von der Hannoveraner Koelbel Trainingsforschung wurde! Damit trainierte ich beinahe täglich und befüllte sie mit zunehmender Kraft nicht nur mit Wasser, sondern auch mit Sand und Kieselsteinen.

Als Koelbel-Kunde wurde ich mit guter Regelmäßigkeit darauf hingewiesen, dass der Bizeps nur, jedenfalls vielvielviel besser wächst, wenn ich Proteinpulver einnehme. Damit stellt sich nicht nur Muskelwachstum ein, sondern man kann seine dann zu klein gewordenenHemden förmlich sprengen. Ja, so wurde damals geworben!

Ich gestehe: Hätte ich mich damals festlegen müssen, hätte ich behauptet, dass Muskeln auch ohne Training wachsen würden. Proteinpulver genügte meiner Meinung nach, um muskulöse Arme zu bekommen, so sehr war ich von diesem magischen Zeug überzeugt.

Nun, ganz so war und ist es nicht, wie ich aber erst später herausfand. Im Alter von 16 Jahren hatte mein Vater ein Einsehen und meldete mich in einem Sportstudio an. Mit neuem Equipment und Leuten, die mir halfen, explodierte mein Körper förmlich. Auch ohne Proteinpulver, für das mein Taschengeld in Anbetracht des Sportstudiobeitrags damals nicht mehr reichte.

Aus dieser Zeit nahm ich mit, dass mit einer guten Auswahl an alltäglichen Nahrungsmitteln sehr viel möglich ist. Wenn, ja, WENN nur das Training hart und regelmäßig erfolgt.

Allerdings blieb bei mir auch haften, wie stark ich mich von den besagten Werbeaussagen über Protein & Co. beeinflussen ließ. Werbung wirkt, nicht nur gestern, sondern auch heute. Vor allem jene Art Werbung, die uns Versprechungen macht. Und ich sehe mich in meinem Alltag, wenn ich Athletinnen und Athleten betreue, immer wieder in der Position, den durch die Werbung erzeugten Emotionen etwas Bodenhaftung verleihen zu müssen.

Dies ist keine leichte Aufgabe, wie sich erst vor einigen Tagen wieder zeigte.Ich lernte einen gut zwanzigjährigen Sportler kennen, der sich für eine Zusammenarbeit mit mir interessierte. Er erzählte mir von sich, von seinem Training und seiner Ernährung. Ich merkte schnell, dass er von Training wenig verstand und viel Energie in seine Ernährung investierte. Seine Ernährungsinhalte warenexakt geplant, minutiös abgestimmt und genau berechnet. Sie erschienen geradezu ritualisiert.

Wichtiger Bestandteil dessen war direkt vor der Nachtruhe einen Kaseinshake zu trinken. Keine proteinreiche Nahrung an sich, kein üblicher Shake etwa mit Molke- oder Mehrkomponentenprotein, auch keinen Magerquark (der 80 % Kasein enthält). Es musste Kasein sein, das den Körper gemäß Werbeaussagen „für bis zu 7 Stunden“ mit Aminosäuren versorgt und „antikatabol“ wirkt. Alles andere wäre ein schlechter Kompromiss gewesen, denn er hatte geradezu Angst, nähme er nicht Kasein zu sich, dass er über Nacht an Muskulatur verlöre oder weniger als möglich an Muskulatur zunehmen könnte.

Woher er das denn wisse, fragte ich. Er erwiderte verwundert, dass dies doch Basiswissen sei, jeder ernsthafte Sportler mache das so. Der Junge Sportskollege berief sich auch darauf, dass nicht ohne Grund alle großen Supplementfirmen Kasein im Angebot haben. Ob ich wirklich glaubte, dass uns diese Firmen mit einem unnötigen Produkt versorgten?

Ich sagte ihm: „Ja.“

Nun, wir einigten uns (noch) nicht auf eine Zusammenarbeit, was ich in Anbetracht seiner Befremdung schon während des Gesprächs vermutete.Ich versprach ihm eine kurze Erläuterung zukommen zu lassen, die ich nun auch mit den Lesern bei TRAINSANE teilen möchte.

Richtig! Praktisch ALLE Supplement-Anbieter liegen falsch und sie bewerben mit Kasein ein Produkt, das offenbar niemand braucht.In wissenschaftlichen Studien zur Belegung des Sinns der Kaseineinnahme wurde schlichtübersehen, dass es nicht nur den langsamen Proteinstoffwechsel der Muskulatur, sondern auch den mehrfach schnelleren Proteinstoffwechsel der Innenorgane gibt. Beide tragen zur gesamtkörperlichen Proteinbilanz bei, aber bei einer für wenige Stunden ausbleibenden Proteinzufuhrbestimmen die Innenorgane das Geschehen.

Nimmst du vor dem Einschlafen kein Kasein zu dir, so hat dies im Wesentlichen keinen Einfluss auf das Wachstum deiner Skelettmuskulatur. Lass das lieber, du sparst nicht nur Geld, sondern du vermeidest die Tendenz an Substanz zunehmender Innenorgane.

Wer dies vertiefen möchte, kann sich die überzeugenden Ausführungen des Experten Prof. Stuart M. Phillipsvon der kanadischen McMaster University ansehen. In der Textstelle auf Seite 102, links, führt er eine nicht zu widerlegende Schlussfolgerung aus.

Proceedings of the Nutrition Society, Vol. 70, Issue 01, February 2011, pp 100-103
http://journals.cambridge.org/action/displayAbstract?fromPage=online&aid=8001844&fileId=S002966511000399X

Da ich weiß, dass das Essen von Magerquark (wegen seines Kaseinanteils) oder die Einnahme eines Kaseinshakes für viele engagierte Sportler ein fast nicht wegzudenkendes Ritual darstellt, erwähne ich auch, dass Kasein als Fraktion des Milcheiweißes ein eher geringwertiges Einzelprotein ist.

Doch warum verarbeiten Hersteller Milchprotein um daraus Kasein als geringwertigen Einzelbestandteil zu gewinnen und diesen dann teurer als das Milchprotein selbst zu verkaufen? Die Antwort dürften nur die Proteinhersteller kennen, aber der Wunsch an dir Geld zu verdienen mag als naheliegendste Erklärung nicht außer Acht bleiben.

Übrigens, zu diesem Thema habe ich bislang vier der größten deutschen Supplementhersteller befragt. Von keinem erhielt ich eine Antwort und alle halten bis jetzt an ihren Werbeaussagen rund um Kasein fest …

Und die Moral von der Geschicht‘? Glaube nicht alles, was dir die Werbung verspricht. Selbst dann, wenn dem viele Leute folgen, kann es purer Unsinn sein.

 Autor:

Keller

Markus Keller, Jahrgang 1971, ist seit 1984 aktiver Kraftsportler und seit 1990 als Trainer und Ernährungsberater tätig. Er berät Sportlerinnen und Sportler sowie Unternehmen der Fitness- und Ernährungsbranche. Seit 1994 ist er als Werbetexter und Autor tätig. Seine aktuellste Publikation ist das Buch „50 Chancen für mehr Erfolg in Bodybuilding & Fitness: Wissenschaft auf den Punkt gebracht“.

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